Am 12.10.2014 fand anlässlich des Welttierschutztages in der Kirche zur Heimat (Berlin-Zehlendorf) ein „Gottesdienst für Mensch und Tier“ statt. Die Predigt hielt Dr. Julia Eva Wannenmacher, Theologin, Initiatorin der Vortrags- und Diskussionabende „Tierrechtstheorie Berlin“, Blog-Autorin bei Berlin-Vegan und Organisatorin von Workshops, Lesungen und anderen Veranstaltungen zu Tierrechtsthemen. Der Gottesdienst war eine Veranstaltung vom „Arbeitskreis Kirche und Tier“ der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) und der „Tierversuchsgegner Berlin und Brandenburg ev.“ mit Pfarrer i.R. Reinhard Dalchow, Umweltbeauftragter der EKBO a.D.
Viele fragten Julia nach dem Text ihrer Predigt, und weil er eindeutig versucht, Position zu beziehen, veröffentlicht Berlin-Vegan ihn hier.
Liebe Freunde,
viele von Euch werden seine Geschichte kennen, die Geschichte von dem vielleicht seltsamsten Heiligen des Mittelalters. Sein Sonnengesang, in dem der Kaufmannssohn aus Assisi die Natur, alle Pflanzen und Tiere als seine Geschwister erkennt und anspricht, ist uns allen vertraut. Wie ein heiterer Sonnenstrahl bricht das Lied des einfachen Bettelmönchs Franziskus hinein in unser Bild vom Mittelalter, und es erhellt auch heute noch unsere Gottesdienste mit seinem Leuchten, das die Gottesnähe aller Geschöpfe und selbst des Todes feiert und ihn so überwindet.
Franziskus, die ganze christliche Welt nahm und nimmt es als Zeichen der Hoffnung und Erneuerung, einer neuen Mitgeschöpflichkeit und Geschwisterlichkeit, dass der zuletzt gewählte Papst den Namen des bescheidenen Mönchs wählte, der weder vor Menschen noch Tieren noch Gott Berührungsängste hatte.
Von dem scheinbar naiven Einssein des Franziskus mit der Schöpfung sind wir heute weit entfernt. Wir haben inzwischen einiges mehr gelernt darüber, wie Tiere handeln, Tiere fühlen, Tiere lieben. Sogar Fische empfinden Schmerz und haben so etwas wie ein Sozialleben. Nichts Neues, eigentlich. Schon das Alte Testament ist voll von Hinweisen auf die Klugheit und Gottesnähe der Tiere.
Aber dennoch, manche sagen, die Kirche sei mit schuldig am Leid der Tiere in unserer modernen Gesellschaft. Hinter dieser Anklage steht die Erwartungshaltung, dass Kirche eigentlich eine besondere moralische Verantwortung trage. Man macht ja auch nicht Banken oder Gewerkschaften für Tierleid verantwortlich. Viele Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche meinen, die Kirche habe in puncto Tiere versagt.
Zwar gibt es inzwischen Anzeichen einer Neuerung. Der Ökumenische Rat der Kirchen schrieb sich bereits vor über 30 Jahren Frieden und Bewahrung der Schöpfung auf die Fahnen. 1988 verfasste eine Handvoll Theologinnen und Theologen in Deutschland das Glauberger Schuldbekenntnis, in dem sie bekannten, den Auftrag Christi zum Schutz der Tiere verraten zu haben – ein Bekenntnis, das in manchen Kreisen nicht unwidersprochen blieb. Manche sagten: unsere Schuld den Tieren gegenüber zuzugeben, das geht zu weit.
Dabei hat genau das – zu weit gehen – in der Kirche seit Jesus Christus Tradition, und wurde von Franziskus wieder aufgenommen.
Jesus ging zu weit, als er einmal den Tempel säuberte. Das war kein braves Putzen, sondern ein gewaltsamer Sturm, mit dem er etablierte Strukturen, den traditionellen Handel mit Opfertieren und Kleingeld, mit Macht hinaus fegte, zum Entsetzen sicher nicht nur der Händler. Was mögen die Priester im Tempel gedacht haben, falls sie zufällig hinaus schauten, von dem jungen Mann und seiner verrückten, radikalen Aktion?
Von Franziskus, dem viele Begegnungen mit Tieren zugeschrieben werden, wird folgendes berichtet:
„Als er ein anderes Mal durch die[se] Mark [Ancona] reiste, … traf er auf einen Mann, der zwei Lämmchen an einem Strick auf seiner Schulter zum Markt trug, um sie zu verkaufen. Als der selige Franziskus die Lämmer blöken hörte, berührte ihn dies sehr; er näherte sich ihnen und streichelte sie, wie eine Mutter ein weinendes Kind …. Und er sprach zu dem Mann: ‚Warum quälst du meine Brüder Lämmer so …?‘ Dieser antwortete: ‚Ich bringe sie auf den Markt, um sie zu verkaufen, weil mich die Not dazu treibt.‘ Und der Heilige sprach: ‚Was wird dann mit ihnen geschehen?‘ Darauf erwiderte jener: ‚Die Käufer werden sie töten und essen.‘ ‚Das sei fern‘, antwortete der Heilige, ‚dies darf nicht geschehen! Nimm als Bezahlung den Mantel, den ich trage, und überlass mir die Lämmer!‘ Dieser gab ihm freudig die Lämmchen und nahm den Mantel, weil der Mantel, den Franziskus an jenem Tag von einem treuen Anhänger gegen die Kälte geliehen bekommen hatte, viel mehr wert war. Nachdem der Heilige die Lämmchen in Empfang genommen hatte, überlegte er …bei sich, was er mit ihnen machen sollte, und nachdem er sich mit dem Bruder, der ihn begleitete, beraten hatte, gab er sie jenem Mann zurück, damit er auf sie aufpasse, mit der Auflage, sie niemals zu verkaufen und ihnen kein Leid zuzufügen, sondern sie … zu beschützen, zu ernähren und zu hüten.“
Beide, Franziskus und Jesus, haben in den gewohnten Ablauf des freien Marktes eingegriffen, Jesus noch dazu unmittelbar in die Finanzwirtschaft der höchsten geistlichen Autorität. Beide haben die Routine gestört, den Handel behindert. Jesus wirft den Menschen vor, über ihren Geschäften mit Opfertieren das Wesentliche zu verdrängen und zu vergessen: sich auf Gott zu konzentrieren, den Gott, der schon im Alten Testament den Geruch der Brandopfer durchaus kritisch sah, und sich wünschte, dass die Menschen lieber demütigen Herzens zu ihm kämen, statt Tiere zu opfern.
Franziskus dagegen kritisiert und nichts und niemand, er erschrickt nur aus tiefstem Herzen vor dem Schicksal, das die beiden Lämmer erwartet, und er handelt. Wir wissen nicht, was der Bauer und die Begleiter des Franziskus gedacht haben. Aber wenn wir uns bei der Betrachtung der Szene den Heiligenschein um den Kopf des Franziskus einmal wegdenken: Was für eine Aktion! Franziskus wird im wahrsten Sinn des Wortes kriminell, denn was ist es anders, den geliehenen Mantel eines reichen Mannes zu verkaufen? Und was für eine sentimentale, sinnlose Handlungsweise! Man kann sich vorstellen, wie die anderen innerlich die Köpfe geschüttelt haben mögen über diesen kindischen Wirrkopf.
Franziskus wird hier wenn nicht zum ersten Tierbefreier, so doch zum ersten Sponsor eines Mini-Gnadenhofs für Nutztiere. Auch die heutigen Betreiber von solchen Gnadenhöfen werden gelegentlich belächelt. Die Autorin Hilal Sezgin berichtet, wie Besucher ihres kleinen Gnadenhofs sie gelegentlich fragen, was sie denn mit ihren Schafen mache, und fassungslos sind, wenn sie sagt: Nichts; denn dann seien die Schafe doch zu nichts nutze! Und Hilal antwortet fröhlich: Ach, ich bin doch auch zu nichts nutze! Die Verblüffung der Besucher spricht Bände. Warum sollen Tiere nicht einfach nur leben, so wie wir?
Auch die beiden Schafe des Franziskus waren zu nichts mehr nutze. Dennoch hatte sich Franziskus für ihr Leben entschieden, gegen die Tradition, gegen alles Herkommen, gegen jede Bilanz, er, der Kaufmannssohn!
Dass Tiere für uns nützlich zu sein haben, damit wir sie leben lassen, ist in unserer Gesellschaft üblich. Die Vorstellung, dass alle Tiere nur für uns Menschen da zu sein zu haben, ist fest im menschlichen Bewusstsein verankert, vom alten Ägypten bis in die Tierversuchslabors der Gegenwart. Und fast alle Religionen, auch das Christentum, haben daran mitgearbeitet, diese Überzeugung zu erhalten. Auch in der christlichen Theologie wurden Tiere als jüngere Brüder und Schwestern gesehen, über die wir die Aufsichtspflicht haben und sie im Gegenzug auch nutzen und ausnutzen dürfen, bis zum Tod.
Dabei sind sie vor uns geschaffen worden, so die Genesis. Sie sind also eher unsere älteren Geschwister, die uns manches von der Schöpfung und dem Schöpfer erzählen könnten, wenn wir nur zuhörten – wie Hiob weiß: „Frage doch das Vieh, das wird dich’s lehren und die Vögel unter dem Himmel, die werden dir’s sagen; oder rede mit der Erde, die wird dich’s lehren, und die Fische im Meer werden dir’s erzählen. Wer erkennte nicht an dem allem, dass des HERRN Hand solches gemacht hat?“
Gott hat sie wie uns erschaffen, und er will sie wie uns erlösen. Der Apostel Paulus stellt fest: „wir wissen, dass alle Kreatur sehnt sich mit uns und ängstet sich noch immerdar. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst … sehnen uns auch bei uns selbst nach der Kindschaft und warten auf unsers Leibes Erlösung.“ Die Kindschaft Gottes – nach Paulus ist sie ebenso das Recht der Tiere, unserer Brüder und Schwestern, wie unser eigenes.
Unsere Brüder und Schwestern. Bruder Hund, Schwester Katze. Natürlich haben viele von uns manche besonders lieb. Franziskus liebte beispielsweise die Schwester Lerche. Ich liebe meine Schwester Schildkröte. Und Ihr? Aber auch die anderen, die, die wir nicht sehen, sind unsere Brüder und Schwestern. Die 60 Millionen Schweine, die jedes Jahr allein in Deutschland sterben, nur damit wir sie essen. Die mehr als vier Millionen Kälbchen, die jedes Jahr in Deutschland ihren Müttern weggenommen werden, damit wir ihre Milch trinken können. Insgesamt sind es in Deutschland 750 Millionen Tiere, die jedes Jahr geschlachtet werden. Nicht damit wir leben – denn gut leben können wir auch ohne Fleisch, Milch und Tierleid. Nur für einen kurzen Gaumenschmaus. Geht man so mit Brüdern und Schwestern um?
Die meisten von uns glauben und hoffen mit Paulus, dass sie ihre geliebten tierischen Freunde, Hunde, Katzen, das Eichhörnchen vom Park oder Rilkes Panther in der Ewigkeit wiedertreffen werden. Aber dann würden wir auch all die anderen unserer Geschwister wiedertreffen, Bruder Schwein, Schwester Milchkuh, Brüderchen Hähnchen, Schwesterchen Martinsgans … wie würden wir ihnen in die Augen blicken, falls wir zufällig noch mit dem letzten Bissen Fleisch und Käse im Mund dort ankämen?
Manche finden diese Position radikal. Extrem. Unbequem. Manche machen lieber Witze über Vegetarier und Veganer, als dass sie sich Gedanken über ihre Ernährungsgewohnheiten und deren weltweite Konsequenzen machen. Sie sind lieber für Routine – als für Veränderung. Der evangelische Pfarrer Carl Anders Skriver schrieb mit Blick auf die Tiere 1967: „Jesus Christus sagt: Siehe, ich mache alles neu. Die Kirche sagt: Siehe, es bleibt alles beim Alten.“
Dabei hat gerade Veränderung in der Kirche Tradition. Sich auf die Seite der Schwächsten stellen, wo das Recht des Stärkeren gilt. Für Gerechtigkeit eintreten, wo Unrecht Alltag ist. Vor einem Menschenalter schrieb dazu der große Theologe Karl Barth:
„Lieber soll [die christliche Gemeinde] dreimal zuviel für die Schwachen eintreten, als einmal zu wenig, lieber unangenehm laut ihre Stimme erheben, wo Recht und Freiheit gefährdet sind, als angenehm leise!“
Ich wünschte mir, dass wir, die christliche Gemeinde, unsere Augen und unsere Herzen nicht verschließen, sondern sie für die Schwachen öffnen, um für sie einzutreten – ob Mensch oder Tier.