Mit fast 40 Teilnehmenden und spannenden Diskussionen startete am 5. September die Tierrechtstheorie Berlin. Es wurden Texte aus Klaus Petrus „Tierrechtsbewegung. Geschichte – Theorie – Aktivismus“ (2013) vorgestellt und diskutiert. Berlin-Vegan spricht mit Julia, einer der Organisator_innen der neuen Veranstaltungsreihe der Berliner Tierrechtsszene.
Julia, wie war euer erster Abend der Tierrechtstheorie?
Der Abend war wirklich super. Wir waren so viele, dass der Raum, den der VEBU uns freundlicherweise zur Verfügung stellt, fast zu klein war, und haben lange und lebhaft über die Frage „Tierausbeutung reformieren oder abschaffen? Abolitionismus vs. Reformismus“ diskutiert: was beide bestimmt, wo die Grenzen sind und was uns dabei wesentlich ist.
Werden diese Abende jetzt also regelmäßig stattfinden?
Ja, wir werden einmal monatlich gemeinsam über Texte, Thesen und Theorien nachdenken und diskutieren.
Kannst du zusammenfassen, was eure Idee für die Abende ist?
Wir wollen mehr über Tierrechtstheorien, -ethik und -philosophie erfahren, über alte Thesen und neue Trends, über die Tierrechtsbewegung in Geschichte und Gegenwart, aber auch über ganz praktische Aspekte von Tierrechtsarbeit, über Veganismus und Gesundheit, Massentierhaltung und Tierversuche. Damit wir nicht im luftleeren Raum diskutieren, werden wir jedes Mal ein Buch oder einen Text als Diskussionsgrundlage mitbringen.
Warum ist es deiner Meinung nach wichtig, sich intensiv mit Tierrechtstheorien und all den Ideen, die dazu gehören, zu beschäftigen?
Wir brauchen Fakten und Argumente, um effektiv Tierrechtsarbeit zu leisten. Wir brauchen eine Diskussionskultur und Argumentationsstruktur. Das wollen wir auch in der Praxis einsetzen und nach Möglichkeit für andere nutzbar machen – ob beim Demonstrieren vor Air France oder beim Diskutieren mit unveganen Verwandten und Freunden.
Wir wollen Tierrechten nicht nur in unserem eigenen Leben Platz und Geltung schaffen, sondern ihnen auch auf der Straße und in der Gesellschaft zum Durchbruch verhelfen. Unsere Stimmen für die Stimmlosen. Darum Tierrechtstheorie.
Genauso wichtig: Auf die Theorie soll die Praxis folgen. Wir praktizieren ja schon jetzt, ob vor dem KaDeWe oder online zuhause. Aber wir wollen noch besser werden. Das können wir üben. Auf einem Besuch beim Aktivismuscamp des VGT hat mich beeindruckt, wie effektiv das sein kann. Verblüffend einfach, verblüffend wirkungsvoll. Nach einem Tag im Aktivismuscamp kann man alles. Was ich jedenfalls gelernt habe, und weiter lernen möchte: Wirkungsvolle Kampagnenarbeit will gelernt sein. Mit den erfahrenen Aktivist_innen vom VGT planen wir bald die ersten Animal Liberation Workshops in Berlin.
Was früher vor allem von außen als eine Schwäche der deutschen Tierrechtsbewegung gesehen wurde, nämlich ihre Heterogenität, ist in Wahrheit ihre Stärke. Wir sind verschieden, haben verschiedene Ansätze und Arbeitsweisen, aber dasselbe Ziel: das Ende der Tierausbeutung.
Wir wollen dabei nicht alles über einen Kamm scheren, sondern im Gegenteil Profil gewinnen. Wir wollen uns nicht voneinander abgrenzen, sondern offen Position beziehen. Wir wollen kritisch und kontrovers diskutieren, aber immer konstruktiv.
Organisierst du die Abende allein?
Nein, Andreas Grabolle und ich machen das gemeinsam. Andreas ist nicht nur Biologe, Wissenschaftsjournalist und Autor, sondern vor allem ebenso klug und belesen wie diskussionsfreudig – ohne ihn, und einige andere (ja, ihr!!!), gäbe es das Projekt so nicht.
Wie seid ihr denn auf die Idee gekommen, einen regelmäßigen Tierrechtstheorieabend zu veranstalten?
Die Idee begleitete mich seit einigen Monaten, und bald nicht nur mich. Obwohl ich die meiste Zeit meistens Lebens vegetarisch und inzwischen vegan lebe, war meine Beschäftigung mit Tierrechten lange Zeit rein theoretisch, aus verschiedenen Gründen. Seit der Begegnung mit österreichischen Aktivist_innen, vor allem LIFE Innsbruck, schien mir die Verbindung zwischen Theorie und Praxis immer wichtiger – und spannender.
Dann traf ich in Berlin immer mehr engagierte, liebenswerte und leidenschaftliche Tierrechtler_innen, auf Demos, Solibrunches, veganen Stammtischen und Arbeitstreffen, erlebte tolle Aktionen, hörte eindrucksvolle und diskussionswürdige Vorträge, von Sharon Nuñez und Jose Valle von Animal Equality España, Klaus Petrus von Tiere im Fokus bis Melanie Joy und zuletzt Nick Cooney, mit denen man einer Meinung sein konnte oder auch nicht. Nur fand ich es jedes Mal so schade, dass es außer unmittelbar danach keine Diskussion mehr darüber gab.
Was könnte diese Diskussion deiner Meinung nach bewirken?
Ich denke, Argumentationshilfen resultieren auf jeden Fall aus der theoretischen Beschäftigung mit Tierrechten, mir zumindest geht es so. Mir ging es so, dass ich seit einiger Zeit anfing, Texte zu lesen, online Vorträge zu hören, von denen ich zunächst dachte, ich wüsste schon alles daraus – und sich dann doch ganz neue Perspektiven daraus entwickelten, die durchaus aus praktisch umgesetzt werden könnten (und sollten). Ich würde da selbst gerne auch mehr lernen, das heißt mit anderen gemeinsam lesen und diskutieren. Die Kenntnis von Fakten und Theorien kann uns helfen, unseren Standpunkt, der von der nichtveganen Umwelt als Außenseiterposition wahrgenommen und in Frage gestellt wird, besser zu kommunizieren und die Botschaft nach außen zu tragen.
Wie schätzt du die derzeitige Situation der Tierrechtsarbeit in Berlin ein?
Vegan ist „in“ im Moment in Berlin – aber was nur „in“ ist, ist bald wieder out. Es geht uns nicht nur um Konsum, sondern es hat einen tieferen Sinn, warum wir vegan sind, es geht um nichtmenschliche Tiere, Klima und Welthunger, darum, die Zusammenhänge zwischen all diesen Polen zu erkennen, und unsere eigene Rolle darin.
Ich würde mir wünschen, dass es uns gelänge, Veganismus nicht nur als Lifestyle zu etablieren, sondern als Teil des Kampfes gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung in den Köpfen, den Straßen und Gesetzen konkret sicht- und spürbar wirksam werden zu lassen. Theorieabende und Animal Liberation Workshops, Tierrechte in Theorie und Praxis, sollen Schritte auf dem Weg dazu sein.
Was steht nach Klaus Petrus auf eurem Programm?
Als nächtes besprechen wir Peter Singers „Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere“, einen Klassiker der Tierrechtsbewegung. Wir werden über die Frage „Person und Wert – wann ist ein Mensch ein Mensch?“ diskutieren, über die vermeintlichen oder tatsächlichen Grenzen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren, und über die Frage nach absoluten oder relativen Werten.
Was die weitere Gestaltung der Tierrechtstheorie angeht: Wir sind offen für eure Wünsche. Und ich bin schon sehr gespannt auf die weitere Diskussion.